Heute und vor fünfundsiebzig Jahren – Gedanken eines Zeitzeugen Von Klaus Köhn

Seit März sind wir in der Folge der Corona-Krise in eine für uns nicht bisher vorstellbare Welt geschleudert worden. Alles scheint nicht mehr normal zu sein und wurde von den Füßen auf den Kopf gestellt.

Mein Denken versetzt mich 75 Jahre zurück, denn der 8. Mai 1945 war für mich in seinen Folgen auch etwas Unwirkliches und nicht Normales. In meinem Kopf waren noch der Krieg und die Angst gespeichert, eine Angst, die durch die Dresdner Bombennacht mit anschließender Evakuierung und Flucht geprägt war. Fast ein Jahr ohne Schule und ohne ärztliche Hilfe war ich mit meiner Mutter unterwegs und habe überlebt. 1945 war das Leben ebenso wenig normal wie heute. 1945 lagen die Städte in Trümmern und die Straßen waren zerstört. Jetzt sind Städte und Straßen wieder aufgebaut, aber menschenleer. Mir wird bewusst, dass der Krieg mich mein ganzes Leben als Resultat eines nationalsozialistisch menschenverachtenden Geschehens beschäftigt hat.

Angesichts der schrecklichen Corona-Pandemie mit viel8en Opfern und Einschränkungen lässt sich der 2. Weltkrieg nicht ausklammern, der nach einer bedingungslosen Kapitulation für das befreite Deutschland in seinen Folgen keine berechenbare Zukunft voraussah. Nach dem von Henry Morgenthau entwickelten, Ende 1944 fallen gelassenen Plan, sollte ein besiegtes Nachkriegsdeutschland allenfalls nur radikal zerstückelt und territorial reduziert als bedeutungsloser Agrarstaat weiter bestehen dürfen. Doch dürfte dieser Plan auch dazu beigetragen haben, dass Hitler den Krieg fanatisch in seinem narzisstischen Elend krankhaft selbstzerstörerisch um jeden Preis in steigernder Grausamkeit fortsetzen ließ, um mit seinem

Tod noch viele mitzunehmen und um Deutschland in einen kollektiven Suizid zu führen. Dieser Weltkrieg löschte 55 Millionen Menschenleben aus. Die meisten Menschen verlor Russland mit 20,6 Millionen, davon 7 Millionen Zivilisten. Deutschland lag buchstäblich in Schutt und Asche. In Deutschland fanden ca. 5,3 Millionen Menschen, davon 4,8 Millionen Soldaten den Tod. In Polen wurden allein 4,2 Millionen Zivilisten getötet. Millionen fanden den Tod in den Konzentrationslagern. Die Opfer, Juden, Sinti, Romas, Polen, Russen und Afro-Amerikaner wurden als „Untermenschen“ etikettiert. Ich begriff auf der Flucht im Alter von neun Jahren am 8. Mai 1945 in Altenberg auf dem Weg nach Ober-Zinnwald (ČSSR) noch nicht, in welcher Welt ich gelebt hatte. Ich hatte nur überlebt. Die Generation, die nur wenige Jahre älter als ich warCorona , gehörte schon zur „Generation ohne Abschied“, nach Wolfgang Borchert diejenigen, die „unterwegs“ waren. Auch meine Mutter und ich waren unterwegs. Über diese Generation schrieb Wolfgang Borchert, in diesen Tagen auch „unterwegs“: „Wir sind eine Generation ohne Bindung und ohne Tiefe. Unsere Tiefe ist Abgrund“. Heinrich Böll schrieb: „Borcherts Schrei galt den Toten, sein Zorn den Überlebenden, die sich mit der Patina geschichtlicher Wohlgefälligkeit umkleideten.

Millionen waren unterwegs. Es kamen die ersten Züge mit den Vertriebenen aus Schlesien und dem Sudetenland, viele zu Fuß. So drängten sich die Menschen dicht an dicht – ohne Abstand – und kletterten auf offene Eisenbahnwagons. Die Wartesäle wurden unsere Schlafsäle. Immer wieder warteten wir auf den nächsten Zug.

Wolfgang Borchert schrieb: „Denn wir wollen nach Hause. Wir wissen nicht, wo das ist: Zu Hause. Eisenbahnen, nachmittags und nachtsSie sind wie wir. Keiner garantiert ihren Tod in ihrer Heimat. Sie sind ohne Ruh und Rast der Nacht. … Sie sind wie wir. Sie halten alle viel mehr aus, als alle geglaubt haben. … Und wenn es aus ist, was ist ihr Leben? Unterwegssein. … Eisenbahnen, nachmittags und nachts. Diese Sätze habe ich erst 15 Jahre später gelesen, und ich wusste sofort: das war unser Unterwegssein, diese „Eisenbahnen, nachmittags und nachts“, waren unsere Eisenbahnen.

Wir hatten Hunger und lernten „Fringsen“, genannt nach dem Kölner Kardinal Frings, der Menschen rechtfertigte, die aus Hunger gestohlen hatten, um leben zu können.

Heinrich Böll schrieb (aus „Das Brot der frühen Jahre„): „Der Hunger lehrte mich die Preise; der Gedanke an frisch gebackenes Brot machte mich ganz dumm im Kopf, und ich streifte oft abends stundenlang durch die Stadt und dachte nichts anderes als: Brot … Ich war brotsüchtig, wie man morphiumsüchtig ist …“.

So lebten wir vor 75 Jahren. Und wie leben wir heute? Zu Hause im Corona Shutdown sind wir satt, werfen Brot weg und hamstern Klopapier und sind nicht unterwegs – oder doch?  Wir leben wochenlang mit Einschränkungen und der Angst vor Ansteckung einer tödlichen Krankheit, die die Schwächsten unserer Gesellschaft besonders hart trifft. Denken wir an die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln, an die Kinder, die unterwegs sind wie ich vor 75 Jahren und deren Not wir angesichts eigener Nöte verdrängen. Heute wie vor 75 Jahren brauchen wir das Ja zum Leben und den Appell zu mehr Solidarität und nicht nur Ängste um Demokratie und Freiheit. Freiheit ist nach Friedrich Hegel die Einsicht in die Vernunft, und die ist mehr denn je gefragt. Ich stimme in den Aufschrei von Wolfgang Borchert ein:

„Ich möchte Leuchtturm sein

in Nacht und Wind –

für Dorsch und Stint –

für jedes Boot –

und bin doch selbst

ein Schiff in Not!“